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Was kommt in China nach 40 Jahren Reform und Öffnung?

40 Jahre Reform und Öffnung (Foto: Janet Mo)
40 Jahre Reform und Öffnung (Foto: Janet Mo)

Es ist etwas über 40 Jahre her, dass der Beschluss über Reform und Öffnung von dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas gefasst wurde.  Immer mehr wird jedoch deutlich, dass die Idee von Reform und Öffnung, so sehr sie China zu einem geradezu beispiellosen Aufstieg verholfen hat, nun an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stößt. 

Das Wirtschaftswachstum gerät ins Stocken, soziale Konflikte treten in den Vordergrund, ökologische Probleme harren immer noch der Lösung. Die KPCh, die ihre Monopolstellung im politischen System der VR China damit begründet, dass nur sie in der Lage ist, Wirtschaft und Gesellschaft in eine erfolgreiche Entwicklung zu führen, sieht sich durch eine zunehmend schwierige wirtschaftliche Situation in ihrem Herrschaftsanspruch bedroht, und die chinesische Regierung gibt Jahr um Jahr mehr Geld dafür aus, Ruhe und Ordnung zu garantieren bzw. wiederherzustellen. Seit Jahren ist man allenthalben auf der Suche nach einer neuen Strategie, doch ist es bisher nicht gelungen, einen Konsens in Partei und Staat darüber zu definieren, wie es nun in den nächsten Jahren weitergehen soll. 

Im Wesentlichen stehen drei Entwicklungsmodelle zur Diskussion:

  1. Digitalisierungsmodell
  2. Modell der Kreislaufwirtschaft
  3. Maoistisches Modell

Das Digitalisierungsmodell erfreut sich in China großer Beliebtheit und hat nach vielen Kennern der Situation auch gute Chancen auf Erfolg. China ist in Sachen digitaler Entwicklung ganz vorne dabei, die Bevölkerung ist sehr technikaffin und nimmt Neuerungen wie mobiles payment enthusiastisch auf, ohne sich zu viele Sorgen um die Möglichkeit der Überwachung durch den Staat zu machen. Die Motivation, diesem Modell künftigen Wirtschaftswachstums zum Durchbruch zu verhelfen, ist besonders groß. Zum einen handelt es sich um eine Entwicklung, die China nicht nachvollzieht, sondern im Gleichschritt und im Wettbewerb mit anderen vollzieht. Man rechnet sich gute Chancen aus, endlich als „Innovation-Leader“ auf diesem Gebiet hervortreten zu können. Hinzu kommt, dass dieses Modell viel Kontinuität und wenig Bruch impliziert. Kontinuität erlaubt es im Bereich der Orientierung an Konsum, Technik und Wirtschaftswachstum, alles Orientierungen, die sich in der Vergangenheit als positiv erwiesen haben und die in diesem Modell sogar noch verstärkt zum Einsatz kommen. Einen fundamentalen Bruch verlangt dieses System im Bereich des traditionellen Arbeitsmarktes, der Organisation von Industrie und Dienstleistung. Die Vertreter dieses Modells verweisen hier auf die große Flexibilität, welche die chinesische Bevölkerung in den letzten 40 Jahren unter Beweis gestellt hat, und setzen darauf, dass wie in der Vergangenheit wegfallende durch neu geschaffene Arbeitsplätze ersetzt werden. 

Parallel zu diesem Modell entsteht in China das Modell der Kreislaufwirtschaft.  Seit vielen Jahren fördern chinesische Regierungen auf allen Ebenen der Verwaltung sogenannte Eco-Industrial-Parks, von denen nicht wenige nach dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft organisiert sind und demnach Unternehmen nach dem Kriterium für die Ansiedlung auswählen, ob sie aus dem Abfall anderer Produkte herstellen können und ihr eigener Abfall wiederum anderen im Park angesiedelten Unternehmen als Rohstoff dienen kann. Hier werden nach einem Prinzip, das auch schon die Reformbemühungen der letzten Jahre bestimmte, vom Staat geförderte Experimentierzonen geschaffen, in denen – zumindest der Theorie nach – streng nach den Regeln der Nachhaltigkeit, der Umweltfreundlichkeit und der Sparsamkeit im Umgang mit den Ressourcen produziert wird. Was wir noch nicht wissen, ist, inwieweit diese Parks ökonomisch erfolgreich sind und ob sie auch ohne Subventionen leben können. Die Verfechter dieses Modells verweisen darauf, dass im Gegensatz zum Digitalisierungsmodell hier etwas erdacht und praktisch umgesetzt werden muss, das noch nirgends in größerem Umfange praktiziert wird. China würde damit ein Modell für die Zukunft erschaffen und nicht seine Zukunft nach einem bereits existierenden Modell nachahmend gestalten. Die dem Modell inhärente Kontinuität beschränkt sich auf den Umgang mit Experimenten im Bereich der Wirtschaft und auf das Festhalten am Prinzip des Wirtschaftswachstums, fast alles sonst erfordert den Bruch. 

Das dritte ist das maoistische Modell. Viele Beobachter im Westen vertreten die Meinung, dass dieses Modell tot ist und in China allerhöchstens von einer minimalen Minderheit von Nostalgikern vertreten wird. In Wahrheit feiert es fröhliche Urständ. Angesichts der noch immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich und den sich damit einhergehend verschärfenden gesellschaftlichen Konflikten argumentieren die Vertreter dieses Modells, dass es nun Zeit sei, eine wirklich sozialistische Wirtschaft zu etablieren. Die früheren Versuche zu maoistischen Zeiten seien nicht erfolgreich gewesen, weil China zu arm gewesen sei. Man habe einer Phase der rapiden kapitalistischen Entwicklung bedurft, um nun ein Niveau gesellschaftlichen Reichtums zu erreichen, das es ermögliche, in die nächste Phase der Entwicklung des Sozialismus einzutreten. Dazu müssten aber einige Maßnahmen rückgängig gemacht werden, die in den letzten Jahren im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik für das allseits bestaunte Wirtschaftswachstum gesorgt haben. Auch dieses Modell existiert nicht nur in den Köpfen einiger Theoretiker, sondern zeigt sich bereits in der Realität auch in Form von sehr hohen Lohnforderungen und verschärften Regularien für inländische und ausländische Betriebe. 

Jedes der drei Modelle hat etwas für sich. Das erste setzt auf Innovation, das zweite auf Umwelt, das dritte auf die Lösung sozialer Fragen. Alle Fragen müssen gelöst werden, aber von der Lösung sind jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Schichten positiv oder negativ betroffen. 

Das neo-liberale Digitalisierungsmodell nützt am ehesten der so genannten Mittelklasse, doch sieht sich diese durch die im Lande herrschenden Umweltbedingungen gesundheitlich bedroht. Einer Umstellung auf die Kreislaufwirtschaft steht sie dennoch mehrheitlich skeptisch gegenüber, fürchtet sie doch die damit einhergehenden Kontrollen und bürokratischen Hemmnisse. Die maoistische Lösung erschreckt die meisten und findet dennoch zunehmend Unterstützung vor allem durch junge Menschen, die in der Schule gelernt haben, sich für „die Massen“ einzusetzen und sich angesichts des Wohlstands, in dem sie aufgewachsen sind, gegenüber jenen Menschen schämen, die in den letzten Jahren davon nichts abbekommen haben. Je nachdem, wie man die drei Modelle betrachtet, entspricht die Gleichzeitigkeit ihrer Umsetzung dem Versuch, gleichzeitig im Vorwärts- und im Rückwärtsgang zu fahren. Das System von Reform und Öffnung ist ein hybrides System, das viele Beobachter im Westen zunächst für untauglich erklärt haben. Wird es China gelingen, die drei Modelle, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, zu einem funktionierenden System zusammenzuführen?

Dafür spricht, dass philosophisch China viel besser als wir darauf vorbereitet ist, „Sowohl-als-auch-Modelle“ als möglich und realisierbar zu erproben. Dagegen spricht, dass die chinesische Gesellschaft heute in viele Interessensgruppen zerfällt, die im Wettbewerb miteinander um die Vorherrschaft ringen. 

Lesen Sie mehr dazu im ACBA Jahresbericht 2019.

Autorin:

Univ.-Prof. Dr. Susanne Weigelin-Schwiedrzik
Professorin für Sinologie an der Universität Wien